Objektangaben:
Prunkkelch (sog. Sifridus-Kelch) aus dem Osnabrücker Domschatz von Goldschmied Sifridus
Urheber*in der Fotografie: unbekannt
Entstehungszeit der Aufnahme: vor 1944
Technische Angaben: S/W-Abzug auf Karton, Maße 14,2 x 10,8 cm
Provenienz: Unbekannt
Kommentar:
Die Fotografie präsentiert einen aufwendig gestalteten Prachtkelch, der zu den bedeutendsten Stücken der Goldschmiedekunst des 13. Jahrhunderts zählt. Es wird angenommen, dass der sogenannte Sifridus-Kelch (um 1230/1240) ursprünglich zum Osnabrücker Domschatz gehörte. Das Medaillon mit zwei bärtigen Märtyrern auf der Kuppa, die außer Palmwedeln keine Attribute tragen, zeigt eine hohe Ähnlichkeit mit dem Osnabrücker Domkapitelssiegel, welches seit Mitte des 13. Jahrhunderts nachweisbar ist und Crispin und Crispinian darstellt.[1] Neben figürlichen und vegetabilen Motiven ist der Kelch mit Inschriften geschmückt. Davon ist eine besonders hervorzuheben: Auf dem Kelchfuss unterhalb der Kreuzigungsszene steht „Sifridus me fecit“ (Siegfried machte mich), womit der Künstler sich auf seinem Werk verewigt hat. In dieser Zeit sind derartige Künstlerinschriften noch selten. Da auf dem Goldschrein der hl. Prudentia (um 1230) in Beckum ebenfalls Sifridus als Künstler genannt wird, kann davon ausgegangen werden, dass nicht ein Stifter des Kelchs gemeint war.[2]
Der Kelch befand sich bis zum Beginn der Belagerung Osnabrücks im Dreißigjährigen Krieg im Domschatz. Vermutlich wurde der Kelch im Jahr 1633 als Teil der Zwangszahlungen an das Domkapitel und die Stadt Osnabrück zur Bezahlung der Truppen König Gustav II. Adolfs von Schweden übergeben.[3] Im Gegenzug sollten die Truppen die Stadt von Plünderungen und Brandschatzungen verschonen. Auf unbekanntem Weg gelangte der Kelch schließlich in die Kathedrale von Viborg in Karelien. Im Jahr 1709 erfolgte der Transport des Kelches aufgrund der drohenden Kriegsgefahr mit Russland nach Stockholm, von wo aus er zwei Jahre später nach Porvoo[4] in Finnland überführt wurde. Dort befindet er sich noch heute im Domschatz.[5]
Eine genaue Datierung der Fotografie ist nicht möglich. Weitere Fotografien, die Kunstwerke und Denkmäler in skandinavischen Ländern zeigen, lassen aber den Schluss zu, dass die Aufnahme in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entstanden sein muss. In der Fotosammlung des KHI befinden sich ca. 200 Fotografien, die in zwei eigenen Schubladen mit dem Titel „Skandinavien“ aufbewahrt werden. Die Qualität der Abbildungen und Fotografien dieser thematischen Zusammenstellung ist sehr heterogen, denn auf die Kartons wurden sowohl Postkarten und Publikationsausschnitte als auch private Amateurfotografien und professionelle Verlagsfotografien montiert. Einen Hinweis, wann dieses Konvolut zusammengetragen wurde, geben die Beschriftungen einiger Kartons: Darauf wird die Stadt Wiborg[6] Finnland zugeordnet, was darauf hindeutert, dass zumindest ein Teil der Fotografien zwischen den beiden Weltkriegen der Sammlung hinzugefügt wurde.
Die mögliche Antwort auf die Frage, wer sich am Kunsthistorischen Institut in den 1930er-Jahren mit skandinavischer Kunst beschäftigt haben, aber auch und als Erwerber dieser Aufnahme und der skandinavischen Sammlung gelten könnte, lautet Alfred Stange, Ordinarius am KHI von 1935 bis 1945.[7] Er unternahm zwischen 1936 und 1944 etwa 40 internationale Vortragsreisen, die nicht nur westliche Nachbarländer als Ziel hatten, sondern ebenso Skandinavien, Polen und Österreich.[8] In Finnland hielt er am 7. März 1936 in der Universität von Helsinki einen Vortrag im Rahmen einer deutschen Kunstausstellung mit dem Titel 100 Jahre Deutsche Kunst.[9] Möglicherweise hatte Stange auf seiner Reise Bildmaterial zusammengetragen und diese später an die Fotosammlung des KHI abgegeben.
Die Publikationen von Alfred Stange zur mittelalterlichen Kunst sowie zur Kunst des 19. Jahrhunderts in Deutschland sind bekannt. Sein Interesse an Skandinavien ist bisher jedoch kaum beachtet worden.[10] Dies liegt sicherlich auch daran, dass aus seiner Feder keine großen Publikationen zum Thema bekannt sind. Nur ein schmaler Band mit dem Titel Die Deutsche Kunst und die nordischen Länder[11], der aus einem Kriegsvortrag aus dem Jahr 1942 hervorging, sowie zwei Artikel in Zeitschriften bezeugen sein Interesse für das Thema.[12] Stange wollte in seinem 1943 erschienenen Buch den Einfluss Deutschlands auf die Kunst Skandinaviens an einzelnen Beispielen vom Mittelalter bis zum Ende des 19. Jahrhunderts aufzeigen. Der Sifridus-Kelch ist auch im Bildteil vertreten, in dem insgesamt 38 Bau- und Kunstwerke in Schwarzweißfotografien abgebildet sind. Von diesen Abbildungen sind 21 als Fotografien in der Sammlung des KHI zu finden. Eine mit einem blauen Stift eingetragene fortlaufende Nummerierung, die jeweils unter einigen dieser Fotografien auf der Pappe zu finden ist, macht die konkrete Zuordnung zur Publikation möglich. Damit ist zugleich ein Nachweis für die Nutzung der Fotosammlung für Forschung und Publikationen in der Zeit von Alfred Stange gegeben.
Hilja Droste
Anmerkungen:
[1] Wehking 1988.
[2] Ebd.; Krohm/Librentz 2012, S. 175.
[3] Die Informationen zur Provenienz des Sifridus-Kelchs stammen aus: Krohm/Librentz 2012, S. 175.
[4] Porvoo liegt etwa 50 Kilometer östlich von Helsinki. Die Verleihung der Stadtrechte erfolgte im Jahr 1349, wodurch Porvoo die zweitälteste Stadt Finnlands ist.
[5] 1723 wurde die Kirche von Porvoo zum Bischofssitz erhoben.
[6] Finnland löste sich 1917 von Russland. Nach dem verlorenen sowjetisch-finnischen Winterkrieg 1939/1940 mussten die Stadt Wiborg und ihre Umgebung an Russland abgetreten werden. Nachdem sie im Zuge des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion zunächst von Finnland zurückerobert worden waren, wurde sie 1944 endgültig sowjetisch.
[7] Zu Alfred Stange: Grötecke 2018 (mit älterer Literatur).
[8] Zu den Vorträgen Stanges im Ausland siehe Grötecke 2022, S. 396; Heftrig 2008, S. 151f.; Archiv KHI Bonn, Alfred Stange, Karton 29, Korrespondenzen 1940–44, II, Kriegsrundschreiben 20.11.1943, und April 1944.
[9] Grötecke 2022, S. 398; Universitätsarchiv Bonn, Universitätsverwaltung, Personalakten 9390, Teil 3: Brief des Kurators an Stange am 3.3.1936 (auch in der Akte UAB PF-PA 616). Die Ausstellung Sata vuotta Saksan kuvaamataidetta (7.3.–29.3.1936) in Taidehalli in Helsinki wurde als deutsch-finnische Kooperation von der finnischen Regierung mit der Nordischen Gesellschaft und der NS-Kulturgemeinde organisiert.
[10] Eine Ausnahme stellt der Beitrag von Krüger Saß 2008, S. 233 dar.
[11] Alfred Stange: Die Deutsche Kunst und die nordischen Länder, Bonn 1943. Die Vorlesung fand im Rahmen der Vortragsreihe Europas Nordland statt, die an der Universität Bonn organisiert wurde.
[12] Alfred Stange: In allen Landen bauten frühe deutsche Meister, in: Illustrierte Zeitung, 1940, No. 4963, S. 421–424; ders.: Die deutsche Kunst und der europäische Norden, in: Der Norden 19 (1942), No. 4, S. 1–6.
Literatur:
Grötecke 2018
Iris Grötecke: Alfred Stange – Politik und Wissenschaft. Ordinarius des Bonner Kunsthistorischen Instituts von 1935 bis 1945, in: Roland Kanz (Hg.): Das Kunsthistorische Institut in Bonn. Geschichte und Gelehrte, Berlin/München 2018, S. 147–175
Grötecke 2022
Iris Grötecke: Wissenschaftliche Auslandsbeziehungen. Alfred Stanges Vortragsreisen zwischen 1936 und 1944, in: Esther Heyer, Florence de Peyronnet-Dryden und Hans-Werner Langbrandtner (Hg.): „Als künstlerisch wertvoll unter militärischem Schutz!“. Ein archivisches Sachinventar zum militärischen Kunstschutz im Zweiten Weltkrieg, Wien/Köln 2022, S. 391–414
Heftrig 2008
Ruth Heftrig: Facetten der Bonner Kunstgeschichte im Nationalsozialismus, in: Thomas Becker (Hg.): Zwischen Diktatur und Neubeginn. Die Universität Bonn im ‚Dritten Reich‘ und in der Nachkriegszeit, Göttingen 2008, S. 141–158
Krohm/Librentz 2012
Hartmut Krohm & Janine Librentz: Kat. 47, in: Goldene Pracht mittelalterliche Schatzkunst in Westfalen, hg. von Gerd Althoff & Olaf Siart (Ausst.-Kat. Münster, LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte und Domkammer der Kathedralkirche St. Paulus, 26. Februar bis 28. Mai 2012), München 2012, S. 174–177
Krüger Saß 2008
Susan Krüger Saß: „Nordische Kunst“. Die Bedeutung des Begriffes während des Nationalsozialismus, in: Ruth Heftrig, Olaf Peters und Barbara Schellewald (Hg.): Kunstgeschichte im „Dritten Reich“. Theorien, Methoden, Praktiken, Berlin 2008, S. 224–244
Wehking 1988
Sabine Wehking: Nr. 11, in: Deutsche Inschriften, Stadt Osnabrück, www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di026g003k0001109 (29.10.2