Robert Reiter (*1932): Form, Geste, Material
Gastbeitrag von Nicole Guether - 9.8.2022
Einleitung
Als Robert Reiter (*1932 bei Bratislava) 1952 sein Studium der Kunsterziehung an der Akademie in München begann war die "Hauptstadt der Bewegung" immer noch schwer vom Krieg gezeichnet und blieb die vormalige NS-Vorzeigeakademie Hort antimoderner Kunstauffassung. Länger als anderswo hielt sich das figurative Bild und die künstlerische Erneuerung war vorerst auf die Rehabilitierung ehemals verfemter Künstler:innen des Expressionismus beschränkt geblieben.
Wie viele seiner Altersgenossen hatte Reiter die Kunst der Klassischen Moderne verzögert, erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entdecken können. Umso mehr begeisterte er sich an der Vorkriegsavantgarde, der er zu Beginn seiner künstlerischen Tätigkeit viele Ideen verdankte. So zeigt sich anfänglich eine Tendenz der starken Konturierung, des expressionistischen, scharfkantigen Strichs und eine auf das Wesentliche reduzierte Formensprache. Doch schon bald traten Spontaneität und die freie, prozessuale Gestaltung hinzu, die die modernen Impulse seiner Zeit verraten. Seine Freundschaft zum Studienkollegen Helmut Sturm brachte Reiter in die Nähe der gesellschaftspolitisch und künstlerisch revolutionären Gruppe „Spur“ und des deutschen Informel.
Figuration und Abstraktion
Obschon sein anhaltendes Thema die Landschaft als vom Menschen geschaffener Raum ist, zielen seine Bilder selten auf die Darstellung topografisch genau bestimmbarer Orte ab. Mit groben und schnellen Pinselhieben bringt Reiter allenfalls Spuren von Figuration auf den Bildträger. Reduziert auf die Eindrücke in der Natur, löst Reiter die Formen auf, verfremdet Farben und setzt diese kontrastreich zusammen. Dabei arbeitet Reiter in unterschiedlichen Graden der Abstraktion, da ihn nicht der Gegenstand an sich, sondern die Farbwirkungen in der Landschaft interessieren. Mal schwungvoll malerisch-gestisch, dann wieder mit grafischen Zugaben bis hin zu an formlose Farbfelder erinnernde reine Malerei.
Geste und Farbe
Mit schneller Hand bringt Reiter seine Bilder auf den Bildträger. Die Gestik seiner rauen, heftigen Pinselhiebe lassen überlegte Spontaneität erkennen, mit der er weitgehend gegenstandfreie, offene Bildformen artikuliert. Das Werk entsteht im prozessualen Dialog des Künstlers mit seinem
gestalterischen Material. Der einkalkulierte Zufall im Schaffensakt tritt an die Stelle des traditionellen Bildthemas, das er mit der Geste des Mutwilligen zu nebeligen Farbfeldern auflöst. Oft bleibt die Palette auf wenige Farben reduziert, tritt nicht selten monochrom auf, um überraschend von Schlieren kräftiger Töne gebrochen zu werden. Farbe ist Stimmungsträger der Bilder, in der Geste artikuliert sich Reiters subjektive Wahrnehmung, in der Abfolge unterschiedlicher Farbflecken komponiert Reiter das Bild wie eine musikalische Partitur.
Material
Wie für viele Künstler:innen der Nachkriegsgeneration gewann der direkte Bezug zum Material für die künstlerische Arbeit an Bedeutung. Darin spiegeln sich Entbehrungen, der Mangel an Werkstoffen sowie die Suche nach neuen Formen des Ausdrucks. Bereits frühzeitig hatte Reiter grobes Sackleinen für sich als Grundstoff entdeckt, zu dem er auch persönliche Bezüge aufweist: Auf der Flucht hat die Familie ihre weinigen Habseligketen für den Transport in Jutesäcken mitgeführt und der Großvater, ein Bauer aus dem
Reiters Umgang mit dem Material ist vielfältig: mal lässt er es fast unbehandelt, sodass Stempel und Schrift sichtbar bleiben, dann wieder nutzt Reiter die Fasern und geflickten Grate als gestalthafte Kürzel der sichtbaren Welt, oder er färbt es flächendeckend, fast monochrom, auch arbeitet Reiter es zu Collagen und Assemblagen aus. Dabei verfolgt Reiter nie ein festes Konzept, sondern findet zu seinen Bildern im Prozess der Entstehung. Dabei werden die Spuren im Sackleinen, das er zu Hunderten in seiner Werkstatt lagert, zu Sinnbildern von Verletzlichkeit und der Abwesenheit des Menschen.
Ein verspäteter Informeller?
Aus der Not heraus beschäftigte sich Reiter über die Anfänge seiner Karriere hinaus lange Zeit vornehmlich mit grafischen Techniken (Radierung, Holzschnitt, Linolschnitt, Lithografie), die er seinen individuellen Bedürfnissen für malerische Effekte anpasste. Die freiere Behandlung des Sujets in der Grafik und Zeichnung ebneten Reiter den Weg zu einer ungezwungeneren Herangehensweise auch in der Malerei. Die gestische Abstraktion ist daher in den grafischen Werken früher angelegt als in seiner Malerei, der er sich erst spät, nach seiner Pensionierung, ganz zuwandte. Denn Robert Reiter war vierzig Jahre als Gymnasiallehrer tätig und engagierte sich daneben ehrenamtlich in der Denkmalpflege
mit der Gründung des Gerätemuseums in Ahorn. Nichtsdestotrotz gelang es Reiter ein umfängliches Werk aufzubauen, das neben hunderten Werken der Malerei, tausende grafische Blätter aufweist.
Es bleibt bemerkenswert, dass sich Reiter genau dann verstärkt der gestisch-informellen Malerei zuwandte, als mit den neo-expressionistischen Jungen Wilden in Deutschland nach Jahrzehnten die figürlich-gegenständliche Malerei ihren Siegeszug antrat. Fast zeitgleich gewann das Material bei ihm stärker an Objektcharakter.
Aus den Archiven III: B. H. Friedman Papers und Dore Ashton Papers in den Archives of American Art (Washington DC), Martha Jackson Gallery Records in der UB Anderson Gallery (Buffalo).
Beitrag von Dominik Eckel - 28.5.2022
Die Archives of American Art der Smithsonian Institution konservieren verschiedene Künstler:innen- und Kritiker:innen-Nachlässe, so auch unter anderem von Dore Ashton und Bernhard Harper Friedman. Beide waren mit dem Abstrakten Expressionismus verbunden. Friedman war mit Jackson Pollock befreundet und führte Korrespondenz mit den Gutai-Künstler:innen in Osaka, nachdem Pollock ab 1952 zunehmend inaktiver wurde, und informierte die Japaner:innen über den Tod des Künstlers im Jahr 1956. Diese Information publizierten die Japaner:innen in ihrer selbst editierten Zeitschrift. Dore Ashton war über den Abstrakten Expressionismus hinaus durch mehrere Europa-Reisen über das Informel, die lyrische Abstraktion und den Tachismus informiert. Mit Aufenthalten und Atelier-Besuchen in Paris, Südfrankreich, Italien und in der BRD erarbeitete sie sich ein detaillierteres Bild der abstrakten Tendenzen der Nachkriegszeit in den USA und Europa in den 1950er Jahren als die meisten anderen US-amerikanischen Kritiker:innen. In verschiedenen Texten publizierte sie ihre Gedanken dazu und Tagebucheinträge geben genaueren Aufschluss darüber, wie sie sich ihre Meinungen bildete. Ashton galt in der New Yorker Kunstszene als angesehene Kritikerin, die für die New York Times arbeitete, bis ihr dort wegen Befangenheit durch ihre zu engen Kontakte in die Kunstszene und ihres angeblich zu anspruchsvollen Stils gekündigt wurde. Daraufhin wechselte sie zu der Zeitschrift Art and Architecture. Friedman und Ashton vereint ihr Interesse für künstlerische Ansätze des Nachkriegsabstraktion auch über US-Amerika hinaus.
Ein solches Interesse machte sich Martha Jackson für ihre Galerie zum Geschäftsmodell. Die UB Anderson Gallery beherbergt diesen Nachlass im Geburtsort der Galeristin in Buffalo. Ihr Ausstellungsprogramm umfasste schon früh internationale Künstler:innen. Im Zuge dieser Aktivitäten und während eines Paris-Aufenthalts entstand der Kontakt zum französischen Kritiker und Unternehmer Michel Tapié, aus dem sich eine Geschäftsbindung und Freundschaft bildete. Diese Koopertaion konnte Künstler:innen als internationales Sprungbrett dienen, da sie über Tapié in Paris und über Jackson in New York ausgestellt werden konnten. Die Geschäftsbeziehung führte ebenfalls dazu, dass Jackson und Tapié die erste Gutai-Ausstellung in den USA organisierten, die 1958 in der New Yorker Galerie debütierte und durch mehrere Städte im Nordosten der USA wanderte. Dore Ashton verfasste zu dieser Ausstellung eine Kritik, die im Pressespiegel der Martha Jackson Gallery aufbewahrt wird.
Neben diesen Archiven befinden sich in Washington DC und Buffalo zudem große Sammlungen des Abstrakten Expressionismus: einerseits in der National Gallery in DC und anderseits in der Albright-Knox Gallery in Buffalo, dessen Sammlung und umgestaltetes Gelände 2023 mit einen größeren Kunstcampus zugänglich gemacht wird. Neben den Sammlungen in New York City (MoMA, Whitney Museum, Guggenheim, Met Museum) zeigen diese Museen und Archive außerhalb der Metropole, die aber dennoch im größeren Einzugsgebiet der Nord-Ost-Küste liegen, dass der Abstrakte Expressionismus und seine Käuferschaft regional verankert war.
Aus den Archiven II: Nachlass Galerie Stadler, Les Abattoirs – FRAC Occitanie Toulouse
Beitrag von Dominik Eckel - 30.11.2021
1955 gründete Rodolphe Stalder die Galerie Stadler in Paris und kurz darauf gewann er Michel Tapié als conseiller artistique für seine Tätigkeiten und folglich protegierte die Galerie zahlreiche Künstler:innen, die mit der art autre assoziiert werden. Galerien sind nicht nur Orte, in denen Künstler:innen und ihre Werke zum Verkauf ausgestellt werden, sondern ziehen auch teilweise ein spezifisches Publikum an: nicht nur potenzielle Käufer:innen sondern auch, wie in den 1950er Jahren und im Fall der Galerie Stadler besonders, andere Künstler:innen, Kritiker:innen oder ein Personenkreis, der die ausgestellten Werke diskursiv prägen wird, noch bevor ein größeres Publikum, etwa durch spätere Museumsausstellungen, einen Zugang zu diesen erhalten. Und allzu oft gelang Künstler:innen der Schritt von der Galerie ins Museum und den Fokus des breiten, öffentlich kulturellen Zeitinteresses nicht. Galerien sind daher oft ein Ort der Entdeckung von Positionen, die es in den musealen Kanon geschafft. Daher erfahren gerade die Aktivitäten nicht-kanonisierter Künstler:innen erfahren durch Galerien eine wertvolle, historische Dokumentation.
Rodolphe Stadler zeigte in seiner Galerie vornehmlich Künstler:innen mit einem mehr oder weniger starken Bezug zum Informel. Während sich historiografisch vor allem die männlichen Maler der 1950er Jahre durchgesetzt haben, scheint in der Galerie ein Raum gefunden worden zu sein, in dem scheinbar weniger durch einen männlichen Blick geurteilt wurde. In den ersten Jahren widmete die Galerie ihre Ausstellungstätigkeiten auch einigen Künstlerinnen wie Carla Accardi, Claire Falkenstein, Ruth Francken, Jeanne Laganne. Zudem sind die Aktivitäten der Galerie eng mit den Aktivitäten von Michel Tapié verbunden, der den Anschluss an ein internationales Netzwerk garantierte. Tapié arbeitete eng mit der Galeristin Martha Jackson zusammen, wie die Korrespondenz im Nachlass Stadler belegt, und in Jacksons New Yorker Galerie konnte Tapié zu seiner ersten USA-Reise im Februar 1957 unterkommen. Auch war Tapié für die Galerie Spazio in Rom conseiller artistique. In der Galerie Stalder ausgestellt zu werden bedeutete daher für Künstler:innen auch potentielle Ausstellungen in New York und Rom und damit eine internationale Ausrichtung ihrer Karrieren.
In Les Abattrois, Musée – FRAC Occitanie Toulouse werden nun, durch eine persönliche Verbundenheit Stadlers mit dem Museum, die Archivalien der Galerie beherbergt.[1] Sämtliche Publikationen zu Ausstellungen der Galerie sind dort erhalten und drüber hinaus sogenannte Press-Books, große Ringbuch-Alben, die jeweils das Ausstellungsfaltblatt, die Einladungskarte und zu jeder Ausstellung eingeklebte Presseartikel aufweisen. Diese bieten einen reichhaltigen Ausganspunkt, um über die Rezeption mancher Künstler:innen in Paris zu recherchieren – negative Bewertungen in der Presse wurden häufig mit einem gelben Strich neben dem eingeklebten Artikel gekennzeichnet. Außerdem enthält der Nachlass einen Großteil der Korrespondenz von Michel Tapié mit Akteuren in den USA, Japan, Nordeuropa und Frankreich und Fotografie-Alben der meisten Vernissagen der Galerie. Der Nachlass erweist sich daher, in der Auseinandersetzung mit dem Pariser Netzwerk und der Kunstszene des Informel und der Abstraktion, als vielseitiges Quellenmaterial.
[1] Vgl. Blogeintrag des Museums zum Nachlass der Galerie: https://www.lesabattoirs.org/blog/lesprit-des-lieux/galerie-rodolphe-stadler-40-ans-de-rencontres-de-recherches-de-partis-pris, letzter Zugriff: 30.11.2021.
Aus den Archiven I: Archive Michel Tapié, Bibliothèque Kandinsky
Beitrag von Dominik Eckel - 22.11.2021
Durch die Unterstützung mit den Feldman-Reisebeihilfen für mein Promotionsprojekt werden Recherchen in ausländischen Archiven ermöglicht. Das erste Ziel, das nun nach den eingeschränkten Reisemöglichkeiten erreicht werden konnte, war die Auswertung des Archive Tapié in der Bibliothèque Kandinsky im Centre Georges Pompidou, Paris. In folgenden Beiträgen stelle ich auch die weitern Ziele und Recherchen der Feldman-Reisebeihilfen vor.
Michel Tapié ist ein Schmelztiegel für die Kunst des Informel. Er stand in Kontakt zu zahlreichen Künstler:innen, Galerist:innen und Museumspersonal und seine Korrespondenz-Verhalten in den 1950er Jahren könnte man nahezu als invasiv beschreiben, da er im hochfrequenten Austausch mit vielen Kulturakteur:innen, vor allem aus der abstrakten Kunst, stand. So verwundert es nicht, dass im Archiv Tapié nicht nur Korrespondenz erhalten ist, sondern auch zahlreichen Visitenkarten, Einladungen zu Vernissagen, Ausstellungskataloge, Manus- und Typoskripte zu Textentwürfen, einige kunstvoll gestaltete Grußkarten, kleinere Druckwerke von Künstler:innen und viele weitere Archivalien. Der Teil des Nachlasses ist enorm reich an unterschiedlichem Quellen.
Für die Archivrecherchen im Rahmen des Promotionsprojektes konnte hier ein Teil der Korrespondenz Tapiés, über den die Entwicklung seiner Ausstellungsaktivitäten – zu Beginn der 1950er Jahre – bis ins Ausland nachvollzogen werden können, gesichtet werden. Leihanfragen zu Werken und Gesuche zur Kuration in ausländischen Institutionen mit Künstler:innen der art autre geben Hinweise darauf, wie informelle Kunst und gestische Malerei Galerie- und Museumsräume bespielt. Diese wurden im Hinblick darauf ausgewertet, wie die art autre als Konzept in den USA, Japan und der BRD aufgenommen, durch Ausstellungs- und Textbeiträge, angenommen und/oder abgelehnt wurde. Regionale Unterschiede der Rezeption von gestischer Malerei können so dargestellt werden. Außerdem war es möglich die Reisen von Tapié in die USA und Japan, beides Länder, die für die transkulturelle Fragestellung des Projekts von Belang sind, zu kontextualisieren.
Die Vielfältigkeit des Materials würde auch Fragestellungen aus anderen Perspektiven erlauben: Rechnungsbelege, Inventar- und Preislisten lassen seine eigene Sammlungstätigkeit rekonstruieren und weisen auf Kunstmarktstrukturen und einen gezielten Aufbau von Interesse an der art autre hin. Tapiés spätere Tätigkeiten ab den 1950er Jahren, beispielsweise seine Gründung des ICAR (International Center for Aesthetic Research) in Turin und deren Ausstellungen sind im Archiv ebenfalls dokumentiert. Fotos von Ausstellungseröffnungen und Reisen, viele beschriftete Dias, die Tapié zu seinen Vorträgen, zu denen er regelmäßig eingeladen wurde, zeigte und zahlreiche Werkabbildungen sowie einige mehr oder wenige lose Publikations- und Textentwürfe in mehrfachen Versionen diversifizieren das Archiv Tapié. Dieser Fonds wird in der Bibliothèque Kandinsky aufbewahrt, ist aber wegen seines offenen Bearbeitungsstatus nur eingeschränkt zugänglich.
Interviewreihe "Allover" Teil VI: Almut Linde
Beitrag von Alexander Leinemann - 18.3.2021
Man könnte sagen, in meiner Praxis des „Dirty-Minimal“ arbeite ich nicht mit einem „leeren Blatt“ als Basis, sondern mit einem „vollen Blatt“, das eine lokale Instanz der Realität ist. […] Das Entscheidende im „Dirty-Minimal“ ist der direkte Umgang mit Realität ohne Umwege. – Almut Linde
Innerhalb der bisher geführten Interviews ist eine Erkenntnis mit aller Klarheit und Deutlichkeit herausgestochen: Der Begriff des „Allover-Paintings“ ist ein immerwährend lebendig erscheinendes Relikt seiner vergangenen Zeit.
Das Überbleibsel einer formalistischen Kunstbetrachtung steht jedoch für mehr, als nur die zur Definition gebrachten Charakteristika des damit kategorisierten Bildes Jackson Pollocks. Mit dem nun gegenwärtig bestehenden zeitlichen Abstand und der umfangreichen Literaturrecherche, die einen abgeschlossenen Quellen-Korpus für die Dissertation generieren konnte, geriet eine Künstlerin in den Fokus, die nicht nur in ihrem Werk, sondern auch in der damit verbundenen Theorie neue Sichtweisen für den Forschungsgegenstand aufbringen konnte. Die Künstlerin Almut Linde und der von ihr formulierte Begriff des „Dirty-Minimal“ eröffneten die Möglichkeit, Pollocks Errungenschaften und die Diskursgeschichte des „Allover-Paintings“ zu einer gegenwärtigen Klärung zu überführen, die nicht durch festgefahrene Fachtermini bestimmt wird. Lindes Werke, die einen steten Prozess der Bewusstseinsarbeit darstellen, operieren mit dem Vorgefundenen der vergangenen Formalitäten und übersetzen diese in ein gegenwärtiges Gerüst des Realen. Die Probleme der Übermenge in der Natur und der damit einhergehenden Schwierigkeit, diese in eine darstellende Form zu überführen, sind für Linde der Anreiz, um mit dieser Problemstellung in einen künstlerischen Dialog zu treten.
Das umfangreiche Gespräch mit der Künstlerin förderte nicht nur eine weitere Teilnehmerin für die damit endgültig abgeschlossene Interviewreihe des Forschungsprojektes zu Tage, sondern verdeutlichte die aktueller denn je bestehende Notwendigkeit in der Aufarbeitung stagnierender Fachtermini des vergangenen Jahrhunderts.
Die Interviews mit Katharina Grosse, Franz Gertsch, Axel Hütte, Thomas Struth, Jörg Sasse und Almut Linde finden im Anhang der Dissertation ihre Veröffentlichung.
Hans Kaiser: Auf den Spuren eines Grenzgängers
Gastbeitrag von Justus Beyerling (Hans-Kaiser-Kreis e. V.) & Lena Thelen (Forschungsvolontärin, Gustav-Lübke-Museum) - 15.3.2021
Hans Kaiser (1914-1982) war, wie es sein Freund der Kunstkritiker John Anthony Thwaites ausgedrückt hat, ein „frontalier“, ein Grenzgänger zwischen Figuration und Abstraktion, zwischen Malerei und angewandter Kunst, zwischen regem Austausch mit künstlerischen Zeitgenossen und zurückgezogener Auseinandersetzung mit sich und seinem eigenen Werk – so entzog er sich in seinem Bedürfnis nach Unabhängigkeit in weiten Teilen der Teilnahme an Künstlergruppen, Gruppenausstellungen sowie insbesondere dem Kunstmarkt.
Obschon das Werk Hans Kaisers nach dessen Tod verschiedentlich in Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen war und in diversen öffentlichen Sammlungen vertreten ist, hat sich die kunsthistorische Forschung bisher nicht eingehend mit diesem befasst. . Dabei ist er spätestens ab 1957 mit der Serie der Losschreibungen künstlerisch auf der Höhe der Zeit, was er nicht zuletzt in der maltechnischen Innovation seiner bereits 1958 entstehenden Brandbilder unter Beweis stellt. Eine eigenständige Position entwickelt er ab 1960 mit den Bildern des Ibizenkischen Tagebuchs, den „explodierten Landschaften“ (Thwaites), die das konkrete Naturerlebnis in komplexe Farb- und Schrifträume überführen: Teils sind die Arbeiten mit kalligrafischen Pinselschwüngen ‚überschrieben‘, teils ganz aus farbigen Schriftzeichen aufgebaut (siehe Abb.).
In den 1970er Jahren führt er neben zahlreichen angewandten Arbeiten, wie etwa seinen Kirchenfenstern für die Kathedrale in Washington, die Erkundung des Bildraums durch Farbe und Schrift vor allem in Serien von Gouachen fort, wohingegen die Bilder seines Spätwerks vermehrt fast monochrome Farbräume darstellen.
Zwischen Formwerdung und Formauflösung wandelnd, offenbaren die Werke Kaisers so den Versuch, stetig neue Korrelationen und Kausalitäten zu erkennen und damit unzähligen Varianten von Wirklichkeit Ausdruck zu verleihen. Auch deshalb erscheint die in seinen Werken eindringlich spürbar werdende Überwindung der Grenzen zwischen Schrift und Bild als logische Konsequenz einer künstlerischen Haltung.
Seit 2002 ist das Gustav-Lübcke-Museum im Besitz des künstlerischen Nachlasses Kaisers. Das Konvolut aus mehreren hundert Zeichnungen und Gemälden wird nun seit Juli 2020 in Form eines zweijährigen Forschungsprojekts untersucht. Ziel ist es, den Bestand zu systematisieren, zu digitalisieren sowie kunsthistorisch zu kontextualisieren. Die Ergebnisse werden im Sommer des Jahres 2022 in Form einer Ausstellung sowie einer Publikation veröffentlicht. Das Projekt wird in Kooperation mit dem Institut für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität umgesetzt und durch das Förderprogramm „Forschungsvolontariat Kunstmuseen NRW“ des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen unterstützt. Weitere Assoziierte stellen das Museum Wilhelm Morgner und das Stadtarchiv in Soest dar.
Ebenfalls seit 2002 befasst sich der Hans-Kaiser-Kreis e.V. damit, das künstlerische Werk Hans Kaisers in seinen unterschiedlichen Facetten – einerseits die Malerei, andererseits die angewandte Kunst in Form von Glasfenstern und Mosaiken im öffentlichen und privaten Raum – durch Ausstellungen und Publikationen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Hierbei kooperiert er eng mit dem Stadtarchiv in Soest, in dem der schriftliche Nachlass eingesehen werden kann, und dem ebenfalls in Soest beheimateten Museum Wilhelm Morgner. Dort werden nicht nur Werke aus der Sammlung gezeigt, sondern im 2016 eröffneten Hans-Kaiser-Raum auch regelmäßig Ausstellungen organisiert. Neben Einzelausstellungen läuft seit 2018 die KAISERREIHE, die Hans Kaiser im Dialog mit jungen Künstlern zeigt und sein Werk auf dessen Aktualität hin befragt. Informationen zu aktuellen Ausstellungen und Publikationen finden sich auf der Internetseite des Hans-Kaiser-Kreises: https://www.hans-kaiser-kreis.de/
Interviewreihe "Allover" Teil V: Jörg Sasse
Beitrag von Alexander Leinemann - 10.03.2021
Nur wenige Minuten von den Ufern der Havel entfernt befindet sich das Atelier des Künstlers Jörg Sasse. Fern dem Großstadttreiben der deutschen Hauptstadt und inmitten von malerisch anmutender Landschaft, die Vorlage für unzählige romantisierte Bildwirklichkeiten sein könnte, führte mich die Einladung des Künstlers in sein Studio und zu einem weiteren Interviewgespräch.
Als Vertreter der „Düsseldorfer Fotoschule“ sowie Meisterschüler von Bernd Becher bildet Jörg Sasses Schaffen aber bereits seit mehreren Jahrzehnten diametrale Positionen zu den Arbeiten des Lehrers aus. Spuren von fotografischen Typologien, Aufnahmen in Schwarz-Weiß oder das Interesse an skulptural erscheinenden Abbildungen von Industriegebäuden sucht man in seinem Werk vergeblich. Sasses Bildsprache ist eigenständig und durch einen jahrelangen Erkenntnisgewinn mit Sicht auf die Fotografie und deren Möglichkeiten als autonomes Medium bestimmt. Bilder von zunächst fotografisch anmutender Detail- und Informationsgenauigkeit verrätseln bei genauerer Betrachtung ihren innewohnenden Inhalt und lassen den Betrachtenden bisweilen ratlos zurück. Das scheinbar von indexikalischer Genauigkeit bestimmte Medium wird zu einer von jeglicher Beiläufigkeit bestimmten Bildgegenwart, in der weder nostalgische Erinnerungsmomente oder ausschweifende Verortungen des Gesehenen ermöglicht werden. Der künstlerische Eingriff erschafft eine Fotografie, die den Betrachtenden zu einem genaueren Hinsehen zwingt und in der dadurch initiierten Prozesshaftigkeit das allgemeine zu einem erkennenden Sehen für Zukünftiges vorbereitet und schult.
Der Künstler Jörg Sasse und sein Portfolio bilden in der inflationären Verbreitung des Fachterminus „Allover“ eine weitere Positionierung aus, die sich dennoch von den vorherigen Beispielen abgrenzt. Denn auch wenn der Begriff erneut im Schaffen eines weiteren Mitgliedes aus dem Kreis der „Becher-Schüler“ aufzufinden ist, so verdeutlichte die exakte Sichtung die zahlreichen Unterschiede und spezifischen Feinheiten der Bilder. Die daraus gewonnenen Ergebnisse sind für das gesamte Forschungsprojekt von enormer Wichtigkeit und schließen den Bereich der fotografischen Verbreitung des Fachbegriffes „Allover“ somit ab.
Interviewreihe "Allover" Teil IV: Axel Hütte 2. Teil
Beitrag von Alexander Leinemann - 23.02.2021
Die Interviewreihe des Dissertationsprojektes „Allover – Genese und Geschichte eines Begriffs im Kontext Jackson Pollocks“ wurde weitergeführt und folgte der Einladung des Künstlers Axel Hütte in sein Düsseldorfer Studio. Zusammen mit dem Galeristen Daniel Marzona wurde die in der Berliner Galerie Marzonas begonnene Diskussion rund um den Fachterminus weiter diskutiert, seine anhand der Ausgangsdefinition befindlichen Feinheiten spezifiziert und mit den Arbeiten Axel Hüttes in einen aktiven Dialog gestellt. In einer Sichtung von vom Künstler selbst ausgewählten Arbeiten fand abschließend eine aktive Nutzung und Erprobung im Feld der Fotografie statt. Dabei standen unter anderem folgende Fragestellungen zur Debatte:
Kann ein fotografisch geschaffenes Werk überhaupt mit einem malerisch konnotierten Fachbegriff kontextualisiert werden? Wo liegen die Überschneidung und wo die negierenden Faktoren, die eine Nutzung eindeutig vereiteln würden? Unter welchen Kriterien lassen sich die ausgewählten Arbeiten Hüttes zusammenfassen und in welchen Bereichen führen die künstlerische Handschrift sowie Haltung des Künstlers möglicherweise zu annähernden oder sogar vereinnahmenden Lesbarkeiten mit den malerischen Vergleichsbeispielen?
Die Werke Axel Hüttes sind eine zentrale und nicht zu negierende Positionierung des Fachterminus innerhalb seiner inflationären Verbreitungsgeschichte. Auffällig ist jedoch, dass selbst im Medium der Fotografie der Begriff zu unterschiedlichen und teils diametralen Einordnungen geführt worden ist. Ein klar zu erkennendes Regelwerk seiner eigentlich angedachten Definitionseigenschaften ist nur anhand peripher Aspekte auszumachen. Für die Aufarbeitung und damit einhergehende Klärung sind diese Erkenntnisse jedoch von enormer Bedeutung. Die umfangreichen Ausführungen Hüttes sowie Marzonas, die sich in äußerst kritischer Art und Weise dem Fachterminus gewidmet und ihre dezidierten Ansichten anschaulich verdeutlichten, stellen daher innerhalb des Dissertationsprojektes einen wichtigen Beitrag zur kritischen Auseinandersetzung und Aufarbeitung des Fachbegriffes dar.
Im nächsten Monat wird ein fünftes und damit den Komplex der Interviews abschließendes Gespräch erneut in die Nähe von Berlin führen und einen Künstler in den Fokus nehmen, dessen fotografische Arbeiten bisweilen nicht mehr als dem Medium zugehörige Werke betitelt werden.
Interviewreihe "Allover" Teil III: Thomas Struth
Beitrag von Alexander Leinemann - 27.01.2021
Ich finde es immer furchtbar, wenn jemand sagt, dass er oder sie diese Fotografie irgendwie malerisch findet. – Thomas Struth
Die zur Nachzeichnung der historischen Ausbreitung des Fachterminus „Allover-Painting“ angesetzte Interviewreihe geht in die nächste Runde und verweilt im Feld der Fotografie. Der ebenfalls zur ersten Generation der Becher-Klasse zugehörige Künstler Thomas Struth war der nächste Gesprächspartner, der sich für eine umfangreiche Diskussion in Bezug auf das Dissertationsprojekt zur Verfügung stellte. Struth, der zu Beginn seines Studiums an der Düsseldorfer Kunstakademie im Jahr 1973 noch Malerei bei u.a. Gerhard Richter studierte, wandte sich jedoch in den folgenden Jahren von diesem Medium ab und trat in die Klasse für Fotografie bei Bernd Becher ein. Dieser Wechsel beeinflusste sein fortkommendes Schaffen grundlegend und blicken wir heute auf seine biographischen Details zurück, so zeichnet sich ein allzu facettenreiches Oeuvre von unterschiedlichen Graden der Beeinflussung ab.
Auch wenn der Künstler sich dezidiert in seiner Serie der „Museumsbilder“ schon einmal mit dem amerikanischen Künstler Jackson Pollock und dessen Werk „Number 31“ (1950) befasst hat, sind es doch die Bilder einer anderen Serie, den „New Pictures from Paradise“, die in der Forschungsliteratur vom Geist des abstrakten Expressionisten heimgesucht werden. Jedes Geäst, Gestrüpp oder anderweitige Grünbepflanzung wird mit ästhetischen Versatzstücken der Vergangenheit assoziiert sowie kontextualisiert. Es scheint so, dass nach Pollocks abstrakten Werken ein Bild eines verwilderten und undurchdringlich erscheinenden Dschungels nur noch als abstrakte Landschaft von malerischer Manier gelesen werden kann, ohne die medienbedingten Unterschiede dabei im Gedächtnis zu behalten. Innerhalb des Interviews wurde daher nicht nur ein Blick auf die vom Fachterminus belegten Arbeiten im künstlerischen Portfolio von Thomas Struth gelegt, sondern zugleich anhand eines zuvor erarbeiteten Fragenkataloges diese Sichtung mit weiterführenden Überlegungen und Diskussionsgrundlagen erweitert.
Die Entstehungsgeschichte rund um die „New Pictures from Paradise“, das Verhältnis zur Malerei des Abstrakten Expressionismus, künstlerische Vorlieben in der Fixierung des Blickes der Betrachtenden und letztendlich die dezidierte Aufschlüsselung der Übernahmemöglichkeiten des Begriffes „Allover“ im Medium der Fotografie machten das Interview zu einem erneut als komplementierend anzusehenden Bestandteil des Dissertationsprojektes.
Interviewreihe "Allover" Teil II: Axel Hütte in der Galerie Daniel Marzona in Berlin
Beitrag von Alexander Leinemann - 26.01.2021
Die Werke der Künstlerinnen und Künstler der Düsseldorfer Fotoschule wurden innerhalb der Forschung immer wieder mit Beispielen der Malerei kontextualisiert. Die Werke des aus der ersten Generation der Becher-Klasse stammenden Künstlers Axel Hütte, der bisweilen als Landschaftsmaler unter den Fotografen bezeichnet wurde, besitzen seitens der Forschungsliteratur eine ausgeprägte Nähe zur Malerei.
Der Fachterminus „Allover“ – seiner vorherigen Medialität entledigt – ist zu einer beständigen Definition für spezifische Bildinhalte seiner Arbeiten geworden. Das Ziel einer angestrebten Vermittlung und letztendlichen Zusammenführung zwischen den unterschiedlichen Medienformen ist dabei nicht zu negieren. Doch inwiefern kann ein fotografisch geschaffenes Werk Eigenschaften eines aus der Malerei stammenden Fachbegriffes für sich vereinnahmen? Führt die Heranziehung des Begriffes „Allover“ zu weiterführenden Neuerkenntnissen oder ist die Brückenbildung mit aller Deutlichkeit zu verneinen? In einem ersten Gespräch mit dem Künstler sowie dem Galeristen Daniel Marzona wurden diese und weitere Fragestellungen diskutiert. Das Ziel bestand darin, in einer ersten Annäherung an den Forschungsgegenstand den Diskussionsrahmen zu schaffen, um in einer zweiten Sitzung im Düsseldorfer Studio des Künstlers zu einer anwendungsorientierten Zuspitzung zu gelangen. Im Atelier des Künstlers werden daher im nächsten Monat anhand von vom Künstler selbst ausgewählten Werken eine auf Anwendbarkeit fokussierte Nutzung des Fachbegriffes durchgeführt.
Die Nachzeichnung der Diskurs- und Anwendungsgeschichte des Fachbegriffes ist in ihrem Umfang als ausgedehnt zu bewerten. Ohne eine Fokussierung auf den Bereich der Fotografie wäre jedoch ein wichtiger Teil seiner historischen Ausbreitung übersehen worden. Den Künstler Axel Hütte innerhalb der Interviewreihe für ein Gespräch zu gewinnen, stellt daher einen bedeutsamen Schritt für die repräsentative Nachzeichnung des „Allover“ Begriffes seit seiner Erstnennung in der Malerei dar. Axel Hüttes Sicht auf die Entwicklung und Wirkungsweise der Fachformulierung generiert für das Gesamtbild der Forschungsarbeit einen weiteren komplementierenden Bestandteil.
Unser Stipendiat Dominik Eckel erhält die Feldman-Reisebeihilfen der Max Weber Stiftung
Beitrag von Dominik Eckel - 11.01.2021
Die Max-Weber-Stiftung (MWS) in Bonn unterstützt das Promotionsvorhaben „Die Formalisierung der Bewegung in der Malerei nach 1945. Körper und Choreographie bei K. O. Götz, Georges Mathieu, Jackson Pollock und Kazuo Shiraga“ mit den Gerald D. Feldman-Reisebeihilfen. Damit werden Archiv- und Bibliotheks-Recherchen im Ausland ermöglicht, bei denen die Auslandsinstitute der MWS ihre Infrastruktur, Beratung und Betreuung zur Unterstützung anbieten. Die Beihilfen werden jährlich ausgeschrieben und fördern Projekte im Rahmen einer Hochschulqualifikationsschrift.
Das Promotionsprojekt von Dominik Eckel widmet sich den vier Künstlern K. O. Götz, Georges Mathieu, Jackson Pollock und Kazuo Shiraga und den Netzwerken, in denen Theorie und Kritik zur informellen Kunst in Deutschland und Frankreich sowie zum Abstrakten Expressionismus in den USA und der Kunst von Gutai in Japan zirkulieren. Die vier Künstler wussten bedingt voneinander und sind sich, wie im Falle von Mathieu und Shiraga, auch persönlich begegnet. Dies war durch eine internationale Interessengemeinschaft möglich, die aus den Künstlern und ihren kritischen Befürworter*innen bestand und Austausch untereinander suchte. Teilnahmen an Ausstellungen fanden daraufhin im Ausland statt und die Frage, unter welchen Bedingungen, Hierarchien und Austauschprozessen diese „Internationalisierung“ stattfinden konnte, soll mithilfe der Feldman-Reisebeihilfen im Werk und Wirken von Götz, Mathieu, Pollock und Shiraga bestimmt werden.
Die Forschungsaufenthalte ermöglichen vertiefte Recherchen, die die Diskurse der Fachliteratur erweitern. Korrespondenzen, Ausstellungsmaterialien und -ansichten, Gästebücher, Fotoalben, Skizzen von Kunstprojekten und unpublizierte Schriftprojekte bieten Quellenmaterial, um diese Diskurse zu nuancieren und ein zirkulierendes Konzept von gestischer Kunst im Sinne einer transkulturellen Kunstgeschichte zu analysieren. Die Ziele, die mit den Feldman-Reisebeihilfen angesteuert werden, sind Archive und Bibliotheken in Paris/Toulouse, Washington/New York und Ōsaka
Interviewreihe „Allover“ Teil I: Katharina Grosse
Beitrag von Alexander Leinemann - 15.12.2020
Der Fachterminus „Allover-Painting“ besitzt eine umfangreiche Entwicklungs- und Nutzungshistorie. In seiner zugrundeliegenden Medialität zunächst der Malerei – insbesondere der Jackson Pollocks – vorbehalten, wurde aus dem vom Medium abgegrenzten Ausdruck „Allover“ eine auf weitem Feld der Nutzung befindliche Formulierung. Diese heute in ihrer Gänze vollständig zu überblicken ist eine der Aufgaben und zugleich Schwierigkeiten meines Dissertationsprojektes. Um in der inflationären Verbreitung zu einer strukturierten und letztendlich repräsentativ stehenden Aufarbeitung zu gelangen, wurde im vergangenen Jahr daher der Blick auf diametral zu den Werken Pollocks stehenden Anwendungsbeispielen innerhalb der Literatursichtung gelegt. Dadurch konnte zum einen der Radius der Verbreitungs- und Diskursgeschichte weiter vergrößert und zum anderen die Annahme verdeutlicht werden, im „Allover“ eine intentionelle Haltung der Schaffenden selbst auszumachen, die sich fern von rein technisch zu betrachtenden Gegebenheiten oder willkürlichen Durchmusterungen positioniert. Das Gespräch mit den Künstlerinnen und Künstlern, die den Begriff selbst verwendeten, musste nun gesucht und in einer Interviewreihe verinnerlicht werden.
Künstlerinnen wie Katharina Grosse, die mit den Hauptwerken Pollocks bereits kuratiert und ausgestellt wurde (Mural: Jackson Pollock | Katharina Grosse, Juli 1, 2019 – Februar 23, 2020, Museum of Fine Arts, Boston) oder der Schweizer Künstler Franz Gertsch und dessen Naturbilder waren bereits in der Literatur einschneidende Beispiele und konnten letztendlich für Interviews gewonnen werden. Das erste Interview erfolgte im August 2020 im Studio von Katharina Grosse in Berlin, wo in einer mehrstündigen Sitzung das Dissertationsthema umfangreich vertieft und wichtige Informationen gewonnen werden konnten. Im darauffolgenden Monat September endete ein über mehrere Monate hinweg reichender Briefwechsel mit Franz Gertsch, der ebenfalls von Erfolg für das Forschungsprojekt gezeichnet war.
Die Archives de la critique d’art in Rennes – September 2020
Beitrag von Dominik Eckel - 8.10.2020
Die Künstler K. O. Götz, Georges Mathieu, Jackson Pollock und Kazuo Shiraga waren international aktiv. Ausstellungen in den USA, Japan, Deutschland und Frankreich fanden bereits in den 1950er Jahren statt, die auch in der Kunstkritik der jeweiligen Länder verhandelt wurden. Um über deren Rezeption im Frankreich der Nachkriegszeit recherchieren zu können, führt ein Weg zu den Archives de la critique d’art (ACA) in Rennes und ein weiterer zur Bibliothèque Kandinsky im Centre Georges Pompidou in Paris. Beide Institutionen bieten nicht nur umfassende Sekundärliteratur zu Kunst der Nachkriegszeit, sondern auch diverse Fonds von unterschiedlichen KünslterInnen und KritikerInnen zur Einsicht an.
Die ACA in Rennes sind ein junges Archiv, das hauptsächlich Nachlässe von KritikerInnen der zweiten Hälfe des 20. Jahrhunderts und der zeitgenössischen Kunst verwaltet, beispielsweise von Pierre Restany, Michel Ragon und vielen weiteren (hier eine Liste der verfügbaren Fonds). Die ACA wurden 1989 gegründet und arbeiten eng mit der Association Internationale des Critiques d‘Art wie auch dem Institut national d’histoire de l’art in Paris zusammen. Schenkungen und Nachlässe haben eine einzigartige Bibliothek mit Schwerpunkt zur modernen und zeitgenössischen Kunst entstehen lassen. Reisebeihilfen für die ACA bietet auch das Deutsche Forum für Kunstgeschichte Paris durch das Paris | Rennes-Stipendium an.
Im Zuge einer Recherche-Woche in Rennes Anfang September konnte ich so einerseits französische Sekundärliteratur, Ausstellungskataloge und -flyer zu den informellen MalerInnen Georges Mathieu, Joan Mitchell und Judit Reigl einsehen. Alle drei lebten und arbeiteten in der Nachkriegszeit in Paris und Umgebung. Andererseits konnte ich mit den Beständen von Michel Ragon und Pierre Restany arbeiten, die beide durch ihre kunstkritischen Tätigkeiten und verschiedene Publikationsprojekte einen mögliche Annäherung an abstrakten Kunst Ende der 1950er-Jahre vorschlugen.