11. Januar 2024

Objekt des Monats Januar Objekt des Monats Januar

Die Büste des Pierre de Wissant von Auguste Rodin präsentiert von Katja Franck

Die Büste des Pierre de Wissant von Auguste Rodin präsentiert von Katja Franck

Büste des Pierre de Wissant von Auguste Rodin
Büste des Pierre de Wissant von Auguste Rodin © KHI, Bonn
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Objektangaben:

Titel: Die Büste des Pierre de Wissant von Auguste Rodin im Museum der Schönen Künste zu Gent

Urheber*in der Fotografie: unbekannt

Entstehungszeit der Aufnahme: um 1910

Technische Angaben: Silbergelatine-Abzug auf Karton, 325 mm x 250 mm

Fotosammlung des Kunsthistorischen Instituts Bonn

Provenienz: unbekannt

Kommentar:

Aus zwei unterschiedlichen Perspektiven präsentiert sich uns hier der Kopf des Pierre de Wissant, einer Figur aus der Gruppe der Bürger von Calais von Auguste Rodin. Doch auch wenn, oder vielleicht gerade weil dem Betrachtenden beide Profile dieser ausdrucksstarken Figur vorgeführt werden, erwächst in diesem womöglich ein Gefühl der Unvollständigkeit, des Nur-teilweise-Begreifens des Werkes in seiner Ganzheit. Allein die Anschauung dieser beiden, sehr verschiedenen Hälften desselben Gesichtes, lassen auf die Komplexität seiner Modellierung schließen, erwecken Neugierde. Der Vorwurf des Vollständigkeitsverlustes und/oder der Abstraktion dreidimensionaler Werke bei ihrer Übertragung in das zweidimensionale Foto-Bild zieht sich indes wie ein roter Faden durch die Geschichte der Fotografie. Noch im Jahrhundert ihrer Erfindung haben sich Kunsttheoretiker wie Adolf von Hildebrand oder Heinrich Wöfflin dieser Problematik gewidmet und das damals noch junge Medium diesbezüglich mitunter scharf kritisiert.[1] Dass bei der fotografischen Aufnahme eines plastischen Werkes eine Abstraktion erfolgt, ist wohl auch kaum zu bestreiten. Dass sich in eben diesem Umstand jedoch gleichzeitig ein großes Potenzial verbirgt, gilt es zu entdecken. Rodin war einer der ersten Bildhauer, der die Möglichkeiten der Fotografie nicht nur zur Vermarktung, sondern auch zur Bedeutungserweiterung seiner Werke zu nutzen wusste.[2] Betrachten wir noch einmal die beiden Aufnahmen der Büste des Pierre de Wissant, so muss auffallen, dass wir die Figur hier in einem spezifischen räumlichen Kontext antreffen. Wie der handschriftliche Vermerk auf dem Kartonbogen verrät, befand sich die Büste zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme bereits an ihrem heutigen Standort: dem Museum der Schönen Künste in Gent.[3] Waren Die Bürger von Calais ein für den Freiraum konzipiertes Denkmal, handelt es sich hier um den Bronzeguss eines Kopfes einer aus diesem Zusammenhang isolierten Figur. Nicht nur ist das Raumgefühl durch seine Lichtverhältnisse ein anderes, es sind hier auch andere Skulpturen zu sehen, die den Raum beleben und mit dem Werk Rodins unmittelbar in Beziehung treten.[4] Rodins Arbeitsprozess war von dem Prinzip des Nonfinito geprägt, steter nachträglicher Veränderung, sei es durch Wegnahme und Hinzufügung einzelner Teile, oder aber durch die Erprobung neuer Raum-Konstellationen und Perspektiven. In diesen Prozessen diente die Fotografie dem Bildhauer als eine willkommene Inspirationsquelle und Gedankenstütze. Indem die Fotografie die Realität gewesener Daseinsformen festzuhalten vermochte, löste sie das Werk vom augenblicklichen Raum- und Zeitkontext seiner Betrachtung. Diese Dematerialisierung des Objekts erlaubte schließlich auch eine simultane Betrachtung verschiedener, mitunter schon vergangener Erscheinungsformen des Werks.[5] Was wir in den Fotografien der Büste des Pierre de Wissant sehen, ist also nur eine Facette, nur eine von vielen Inszenierungsmöglichkeiten der Figur, die gleichsam auf den noch zu entdeckenden Reichtum des Werkes uns dessen Dynamik zu verweisen vermag.

Katja Franck

Anmerkungen:

[1]: Vgl. u.a. Hildebrand, Problem der Form; Wölfflin, Wie man Skulpturen aufnehmen soll (I, 1869), (II, 1897) und (III, 1915).
[2]: Vgl. u.a. Dobbe 2007, S. 58-61. Es sei jedoch nicht zu vergessen, dass es nie Rodin selbst war, der seine Werke fotografierte. Er engagierte hierfür Fotografen aus unterschiedlichen Milieus, von denen viele lange Zeit und teilweise heute noch im Schatten ihres Auftraggebers standen und stehen. Die Nicht-Erwähnung des Fotografen auf dem thematisierten Objekt trägt diesem Umstand Rechnung.
[3]: Vgl. Objekteintrag zu „Head of Pierre de Wissant“, Museum of Fine Arts Ghent, collection online, URL: https://www.mskgent.be/en/collection/1909-ppp-2 [Abruf: 10.01.2024].
[4]: Bei genauerem Hinsehen kann man etwa im Hintergrund der rechten Fotografie die Büste des Napoleon Bonaparte von Charles-Louis Corbert ausmachen. Vgl. Objekteintrag zu „Bust of Napoleon Bonaparte“, Museum of Fine Arts Ghent, collection online, URL: https://www.mskgent.be/en/collection/1884-c [Abruf: 10.01.2024].
[5]: Vgl. u.a. Johnson 2006, S. 199-204; Maaz 2005, S.16-20. 

Literatur:

  • Ausst.-Kat. 1997 - Skulptur im Licht der Fotografie. Von Bayard bis Mapplethorpe, hg. von Erika Billeter (Ausst.-Kat. Duisburg, Wilhelm-Lehmbruck-Museum, Europäisches Zentrum modernenSkulptur, 6. Dezember 1997 bis 22. Februar 1998; Fribourg, Musée d’art et d’histoire, 27. März bis 1. Juni 1998; Wien, Museum modernen Kunst Stiftung Ludwig, Palais Liechtenstein, 26. Juni bis 20. September 1998), Duisburg 1997.
  • Ausst.-Kat. 2010 - FotoSkulptur. Die Fotografie der Skulptur 1839 bis heute, hg. von Roxana Marconi et al. (Ausst.-Kat. New York, The Museum of Modern Art, 1. August bis 1. November 2010; Zürich, Kunsthaus, 25. Februar bis 15. Mai 2011), Ostfildern 2010.
  • Dobbe 2007: Dobbe, Martina: Fotografie als theoretisches Objekt. Bildwissenschaft - Medienästhetik - Kunstgeschichte, München 2007.
  • Elsen, Albert E.: In Rodin's Studio. A photographic Record of Sculpture in the making, Oxford 1980.
  • Hildebrand, Adolf von: Kunsttheoretische Schriften. Das Problem der Form in der bildenden Kunst (Studien zur deutschen Kunstgeschichte, 325), 10. Auflage, Baden-Baden 1961.
  • Johnson 2006: Johnson, Geraldine A.: ‘All concrete Shapes dissolve in Light’: Photographing Sculpture from Rodin to Brancusi, in: Sculpture Journal 15, Nr. 2 (2006), 199-222, DOI: https://www.liverpooluniversitypress.co.uk/doi/epdf/10.3828/sj.15.2.3.
  • Maaz 2005: Maaz, Bernhard: Druet sieht Rodin. Spuren und Bedeu- tung einer Zusammenarbeit, in: Ausst.-Kat. Berlin 2005-2006, 9-28.
  • Pinet, Hélène: Rodin. Der Bildhauer im Licht seiner Photographen, Stuttgart 1886.
  • Wölfflin, Wie man Skulpturen aufnehmen soll (I, 1869): Wölfflin, Heinrich: Wie man Skulpturen aufnehmen soll, in: Zeitschrift für Bildende Kunst, Neue Folge 7 (1896), 224-228, DOI: https://doi.org/10.11588/artdok.00007671.
  • Wölfflin (II, 1867): Wölfflin, Heinrich: Wie man Skulpturen aufnehmen soll, in: Zeitschrift für bildende Kunst, Neue Folge 8 (1897), S. 294-297, DOI: https://doi.org/10.11588/artdok.00007672.
  • Wölfflin (III, 1915): Wölfflin, Heinrich: Wie man Skulpturen aufnehmen soll, in: Zeitschrift für bildende Kunst, Neue Folge 26 (1915), S. 237-244, DOI: https://doi.org/10.11588/artdok.00007673.
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