23. Oktober 2023

Objekt des Monats November Objekt des Monats November

Eine unheimlich faszinierende Fotografie nach Desiré-Maurice Ferrary präsentiert von Gernot Mayer

Eine unheimlich faszinierende Fotografie nach Desiré-Maurice Ferrary präsentiert von Gernot Mayer

Die Plastik Les favorites von Désiré-Maurice Ferrary bei der Weltausstellung 1900
Die Plastik Les favorites von Désiré-Maurice Ferrary bei der Weltausstellung 1900 © KHI, Bonn
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Objektangaben:

Titel: Die Plastik Les favorites von Désiré-Maurice Ferrary bei der Weltausstellung 1900

Urheber der Fotografie: Eugène Fiorillo (tätig 1879–1920) [Verlag: Adolphe Giraudon]

Entstehungszeit der Aufnahme: 1900

Technische Angaben: Silbergelatine-Abzug auf Karton, 255 mm x 190 mm

Fotosammlung des Kunsthistorischen Instituts Bonn

Provenienz: unbekannt

Literatur: unpubliziert

Kommentar:

Beim Anblick dieser Fotografie mag sich ein gewisses Gefühl des Unheimlichen und der Irritation einstellen. Was sehen wir hier? Einen lebenden Menschen oder doch nur die Nachbildung eines solchen?
In seinem Aufsatz Zur Psychologie des Unheimlichen beschrieb Ernst Jentsch 1906 das Unbehagen, das wir bei der Betrachtung von täuschend echt wirkenden Wachsfiguren, Puppen oder Automaten erleben. Das Gefühl des Unheimlichen würde laut Jentsch durch den „Zweifel über die Beseelung oder Nichtbeseelung der Dinge“[1] hervorgerufen werden, der irritiert und verunsichert. In unserem Fall ist es jedoch nicht eine menschenähnliche Figur, ein Android (von griech. andros/eîdos =Mensch/Gestalt), sondern deren fotografisches Abbild, das diese unheimliche aber auch suggestive Wirkung hervorruft. Im Medium der Schwarz-Weiß-Fotografie verschwimmen die Grenzen zwischen Lebewesen und Artefakt, zwischen Realität und Fiktion.[2] Die fotografische Reproduktion liefert uns nur uneindeutige, schlussendlich irreführende Informationen zu Beschaffenheit und Proportion des Bildgegenstands. Mag uns die dargestellte Figur auf der Fotografie lebensgroß erscheinen, handelt es sich nämlich tatsächlich um das Abbild einer Statuette, die gerade einmal 60 cm maß.[3]
Geschaffen wurde diese von dem französischen Bildhauer Désiré-Maurice Ferrary (1852–1904).[4] Der heute weitgehend unbekannte Ferrary hatte an der Ecole des Beaux-Arts studiert und schuf ab 1895 Werke, deren Wirkung von Materialvielfalt und Polychromie geprägt waren.[5] Auch bei der Statuette Les favorites,[6] die Ferrary 1897 in der Pariser Salon-Ausstellung zeigte, setzte der Künstler verschiedenfarbige Marmorsorten, Elfenbein und Bronze ein.[7] Die Frauengestalt aus weißem, polychromierten Marmor war mit Goldschmuck versehen, der vielleicht von dem Juwelier Falize gearbeitet wurde, mit dem Ferrary mehrfach kooperierte.[8] Die Farbigkeit sowie die Kombination der Skulptur mit Realien führten zu einer Verlebendigung der toten Materie. Der materielle Luxus, die sinnliche Pose und das orientalisierende Sujet entsprachen dem Zeitgeschmack und der Ästhetik der Décadence.

Die Verbindung von Erotik und Exotik tritt in der Fotografie von Eugène Fiorillo besonders deutlich in Erscheinung, ist hier die Statuette doch vor einem orientalisch anmutenden Wandschirm gezeigt, der europäische Harems-Phantasien hervorruft. Aufgenommen wurde das Foto anlässlich der Pariser Weltausstellung von 1900, bei der fünf Werke von Ferrary zu sehen waren.[9].
Fotografie uns Skulptur wurden im Fall dieses Werks von Ferrary/Fiorillo gleichsam zu Komplizen: Überwand schon die naturalistische Statuette des Bildhauers durch ihren illusionistischen Charakter die Gattungsästhetik der Skulptur, verschliff die Fotografie mittels ihrer medienspezifischen Qualitäten die Grenzen noch weiter. Das Ergebnis ist ebenso unheimlich wie faszinierend.

Gernot Mayer


Anmerkungen:
[1] Ernst Jentsch, Zur Psychologie des Unheimlichen, in: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift. Bd. 8 (1906), Nr. 22, S. 195–198, 203–205, hier S. 204. Sigmund Freud sollte 1919 auf Jentsch‘ Thesen mit seinem berühmten Aufsatz Das Unheimliche reagieren.
[2] Dieses Phänomen wurde vor allem im Kontext der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts behandelt; siehe dazu etwa: Sykora 1999; Käufer 2006; Ruelfs 2016. Allgemein zum Thema Skulptur und Fotografie siehe ferner: Di Bello 2018; Schröder 2018.
[3] Dioque 2008, S. 145.
[4] Zu Ferrary siehe Türr 1994, S. 238–239; Dioque 2008; Stolpe 2021.
[5] Zum Thema Polychromie in der Skulptur des 19. Jahrhunderts siehe etwa: Le Normand-Romain–Olivié 1986; Türr 1994; Blühm–Curtis 1996.
[6] Der heutige Standort der Statuette ist unbekannt. Betitelt als Königin von Saba war sie im 20. Jahrhundert in Mailand ausgestellt. Siehe Farbabbildung in Rheims 1972, S. 364 sowie Türr 1994, S. 61.
[7] Vgl. Kat. Ausst. 1897, S. 280. Georges Lafenestre beschrieb die beiden von Ferrary präsentierten Werke in seiner Salon-Besprechung (Revue des Deux Mondes, 142, 1897, S. 179) folgendermaßen: „Dans ses petits groupes, la Sulamite, en ivoire, sur un trône, se faisant jouer de la harpe par une négresse en bronze accroupie à ses pieds, vêtue de marbre gris, et les Favorites (une blanche odalisque, en marbre blanc, s’étirant dans un fauteuil, tandis que rampe vers elle, demi-assoupie, une panthère en marbre noirâtre), M. Ferrary aborde des difficultés de ce genre; il les résout avec habileté.“
[8] Stolpe 2021.
[9] Siehe Kat. Ausst. 1900, S. 268. Der Abzug des KHI muss zeitnah zur Aufnahme entstanden sein, denn der Prägestempel, der auf diesem zu sehen ist, wurde nur bis 1904 verwendet; siehe Le Pelley Fonteny 2005, S. 208.

Literatur:

  • Blühm–Curtis 1996: Andreas Blühm – Penelope Curtis (Hgg.), The Colour of Sculpture. 1840–1910 (Kat. Ausst. Van Gogh Museum, Amsterdam – Henry Moore Institute, Leeds), Zwolle 1996
  • Di Bello 2018: Patrizia Di Bello, Sculptural Photographs. From the Calotype to Digital Technologies, London 2018
  • Dioque 2008: Georges Dioque, Un artiste haut-alpinois trop oublié de nos jours, le sculpteur Désiré, Maurice Ferrary, in: Bulletin de la Société d'études des Hautes-Alpes, 2008, S. 133-160
  • Käufer 2006: Birgit Käufer, Die Obsession der Puppe in der Fotografie. Hans Bellmer, Pierre Molinier, Cindy Sherman, Bielefeld 2006
  • Kat. Ausst. 1897 – Exposition annuelle des Beaux-Arts. Salon de 1897. Explication des ouvrages de peinture et dessins, sculpture, architecture et gravure […] (Kat. Ausst. Palais des Champs-Élysées, Paris), Paris 1897
  • Kat. Ausst. 1900 – Exposition universelle de 1900, catalogue officiel illustré de l'exposition décennale des beaux-arts de 1889 à 1900, Paris 1900
  • Le Normand-Romain–Olivié 1986: Antoinette Le Normand-Romain – Jean-Luc Olivié, La polychromie, in: La sculpture française au XIXe siècle (Kat. Ausst. Grand Palais, Paris), Paris 1986, S. 148–159
  • Le Pelley Fonteny 2005: Monique Le Pelley Fonteny, Adolphe & Georges Giraudon. Une bibliotheque photographique, Paris 2005
  • Rheims 1972 : Maurice Rheims, La Sculpture au XIXe siècle, Paris 1972
  • Ruelfs 2016: Esther Ruelfs, Den Körper aktivieren. Verlebendigung und Mortifikation bei Herbert List, Paderborn 2016
  • Schröder 2018: Karoline Schröder, Ein Bild von Skulptur. Der Einfluss der Fotografie auf die Wahrnehmung von Bildhauerei, Bielefeld 2018
  • Stolpe 2021: Elma Stolpe, "Ferrary, Maurice", in: Allgemeines Künstlerlexikon - Internationale Künstlerdatenbank - Online, 2021, URL: https://www.degruyter.com/database/AKL/entry/_00076230/html (letzter Zugriff 23.10.2023)
  • Sykora 1999: Katharina Sykora, Unheimliche Paarungen Androidenfaszination und Geschlecht in der Fotografie, Köln 1999
  • Türr 1994: Katharina Türr, Farbe und Naturalismus in der Skulptur des 19. und 20. Jahrhunderts. Sculpturae vitam insufflat picture, Mainz 1994
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